Kaum ein Text-Bestandteil bewegt die schreibende Zunft vielleicht so sehr wie der Einstieg. Während die eine Fraktion dem gesamten ersten Absatz höchste Priorität einräumt, konzentriert sich die andere auf den ersten Satz. Ich zähle mich je nach Textart zu den Verfechtern beider Theorien. Bei Artikeln in Web und Print steht und fällt die Gunst des Lesers meines Erachtens mit den ersten Wörtern – nicht mit den ersten Sätzen. Anders sieht es bei langen Texten wie Magazin-Reportagen und Romane aus. Für alle Textarten aber gilt: Der erste Satz ist für mich nicht nur die Visitenkarte des gesamten Artikels, er bestimmt den Stil, den Ton und vor allem die Erwartungshaltung des Lesers.
Wenn ihr hier von Anfang an mitlest, dann wisst ihr ja, dass ich den Aufbau von Spannung und die subjektive Appellation an die Emotionen von Lesern für einen der entscheidenden Aspekte beim Schreiben jeglicher Texte halte. Der erste Satz legt dafür die Basis.
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Warum der erste Satz sitzen muss
Vor allem für Web-Texte gilt, dass ein Text binnen kürzester Zeit die Aufmerksamkeit fesseln muss – und ich meine wirklich in kürzester Zeit. Will heißen: Binnen Sekunden. Kein online-Autor kann es sich bei der vielfältigen und teils starken Konkurrenz im Netz erlauben, seine Leser zu langweilen. Denn Leser haben keine Geduld, dafür aber einen schnellen Klick-Finger. Wer bei Google weit oben gelistet sein will, der kann sich nicht erlauben, seine Leser zu frustrieren. Denn Google bewertet, wie lange Leser auf einer Seite bleiben – nicht nur, ob sie einen Artikel anklicken!
Für Print-Texte spielt Google freilich keine Rolle. Trotzdem muss auch dort der erste Satz sitzen, wenn wir Leser begeistern wollen. Zu schnelllebig ist unsere Zeit, als dass Leser sich minutenlang mit einem Text beschäftigen würden, der sie nicht von Anfang an begeistert. Zu schnell springt das Auge in der Zeitung zur nächsten Überschrift oder blättern die Finger die Seiten des Magazins oder der Kundenzeitschrift um.
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Der erste Satz: Beispiele
Ich habe mir mal nach dem Zufallsprinzip angeschaut, was ich selbst da so in den vergangenen zwölf Jahren an ersten Sätzen fabriziert habe. Natürlich habe ich nicht nur Paradebeispiele gefunden! Denn auch wenn ich hier über Texte, gutes Schreiben und Journalismus blogge, heißt das trotzdem nicht, dass ich die Weisheit mit Löffeln gefuttert habe und jeder meiner Texte ein formidables Abbild meiner Theorie ist.
Trotzdem habe ich ein paar erste Sätze gefunden, die ich euch gern beispielhaft zeigen würde. An ihrem Beispiel will ich euch erklären, warum welche der folgenden vier erste-Satz-Taktiken funktioniert.
#1 Kurz, knapp, auf den Punkt
Hinter dem Kreisverkehr fängt die Armut an.
Das war der erste erste Satz, auf den ich zahlreiche Reaktionen erhalten habe und der mir klar machte, wie entscheidend der erste Satz eines Textes ist. Geschrieben habe ich ihn 2008 während meines Volontariats bei der Tageszeitung Nordkurier, inhaltlich ging es um eine Milieu-Reportage in Rostock-Lichtenhagen, jenem Viertel, das 1992 wegen rassistischer Ausschreitungen zu trauriger Berühmtheit gelangt war. Aber zum Satz: Er vereint drei Elemente, die die Aufmerksamkeit des Lesers fesseln. Er ist kurz und dadurch unmittelbar verständlich. Er appelliert an die Emotion des Lesers (Armut). Er überrascht durch einen ungewöhnlichen Zusammenhang (Kreisverkehr/Armut). Ähnlich funktionieren auch diese Sätze, wenn auch ohne den Überraschungsmoment:
Es geht um Geld. (Akten- und Datenvernichtung: Daten vernichten, aber richtig / Wittmann Kundenmagazin)
Die Erde kann nicht mehr. (Umweltverschmutzung durch K+S: Die dunkle Seite des Börsenstars / Spiegel online)
#2 Belletristisch, erzählerisch, szenisch
Wer meine Texte kennt, weiß: Ich liebe lange Sätze und ich liebe die szenische Beschreibung. Lange Sätze sind als erste Sätze zwar nur bedingt geeignet, das Erzählerische aber ist für mich neben der Kurz-und-Knapp-Variante der absolute Favorit. Warum? Weil die szenische Beschreibung den Leser direkt ins Geschehen hinein katapultiert und ihn genau da packt, wo er der Theorie nach am besten zu fassen ist: Bei seiner Emotion und seiner Empathie für das Schicksal anderer Menschen. Beispiele:
Es gibt Momente, da stockt Günther Hainke mitten im Satz, mitten in der Bewegung, hält inne und blickt seine Frau unvermittelt an. (Die Geschichte einer großen Liebe / Hochzeitswahn)
Matthias Meier hat Hunger, als er sich ins Cockpit des Ferienfliegers setzt. (Stress im Cockpit: Von wegen Traumjob Pilot / BR24)
Die Sonne war schon fast untergegangen, als Cesar Vega in der Wüste saß und auf die Wolke wartete. (Geheime Menschenversuche: Pazifisten im Kriegsfieber / Spiegel online)
#3 Kombi-Sätze
Kombi-Sätze nenne ich solche Textanfänge, die mit einer Aufzählung oder einer Feststellung beginnen, die wiederum einer Erklärung bedarf. Nach einem Doppelpunkt folgt daher ein zweiter Satz, ohne den der erste sich nicht erschließen würde. Der erste Satz bildet dabei immer die Rampe für den Folgesatz, baut also Spannung auf und setzt quasi ein sprachliches „Obacht, jetzt kommt was Wichtiges“-Signal. Er kann inhaltlich durchaus rätselhaft sein, während der zweite Satz den großen Auftritt liefert, lautmalerisch also den „Bähm-“ oder „Oh krass, echt?!“-Effekt.
Wir alle wissen: Jeder muss irgendwann sterben. (Zwischen Ethik und Recht: Beim Sterben helfen? / BR24)
Am Anfang war es nur eine Abweichung vom statistischen Standard: Ein paar mehr Mädchen kamen zur Welt, ein paar weniger Jungen. (Die Welt wird weiblicher / SZ Magazin)
Es hat durchaus Seltenheitswert, was der Süden Deutschlands dem Rest der Republik in diesen Tagen bietet: Horst Seehofer, Chef der CSU und bayerischer Ministerpräsident, und Münchens SPD-Oberbürgermeister Christian Ude lächeln so einmütig in die Kameras, dass mancher Wähler sich im Reich der Phantasterei wähnen dürfte. (Bürgerentscheid zur dritten Startbahn: Showdown für Münchens Flughafen / Spiegel online)
Eric Garner, Michael Brown, Tamir Rice, Freddie Gray, Alton Sterling, Philando Castile. Sechs Namen, sechs Tote. (Polizeigewalt in den USA: Der verdrängte Rassismus / BR24)
#4 Vergleich & Wenn-Dann-Konstrukte
Vergleiche sind ein wunderbares sprachliches Mittel, um starke Bilder im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Der Autor T.C. Boyle ist beispielsweise ein Meister dieser Disziplin. Beim Vergleich geht es nicht nur um den klassischen Wie-Vergleich (er sah aus wie ein bedröppelter Rabe nach sechs Tagen Dauerregen), sondern auch um implizite Vergleiche (siehe Beispiel Nr. 1, Vergleich Mensch/Specht). Vergleiche bauen wie Wenn-Dann-Konstrukte einen Überraschungs-Effekt auf, der sich im zweiten Satzteil erschließt und zugleich Spannung aufbaut. Beispiele:
Der Mensch mag mit Überschall durch die Lüfte gleiten können, mit einem Specht aber kann er es auch nach Jahrhunderten technischer Evolution nicht aufnehmen. (Alles, was Specht ist / SZ Magazin)
Wenn das Meer sich bei Ebbe zurückzieht, geben die Wellen am Ufer des britischen Seebads Brighton für einige Stunden den Blick auf ein merkwürdiges Kapitel Technikgeschichte frei. (Schräges Verkehrsmittel: Zug ahoi! / Spiegel online)
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Was der erste Satz beinhalten muss
Ich fasse also zusammen: Der erste Satz ist für Artikel in Print und Online gleichermaßen entscheidend. Er bindet unmittelbar die Aufmerksamkeit des Lesers und weckt in diesem das Verlangen nach mehr Information, erfüllt also den „Oh, das muss ich lesen“-Effekt. Das ist wichtig in einer Zeit, in der kaum noch jemand Zeit fürs Lesen hat. Um den Leser bei seiner Neugier zu packen und festzuhalten, sollte der erste Satz mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllen:
- Aufmerksamkeit wecken
- an Emotionen und Empathie appellieren
- Überraschung bieten
- Spannung aufbauen
Ob kurz oder lang, ob sachlich oder erzählerisch. Immer – und ich meine wirklich: immer – muss der erste Satz verständlich sein oder eine aufgeworfene Frage unmittelbar beantworten.
So, und jetzt kommt ihr: Andere Ansichten, Erfahrungen, Kritik? Dann nutzt gern das Kommentarfeld unten!